Faszinierendes Mediziner-Memoir

Stefan R. Bornstein gehört zu den weltweit wichtigsten Stress-Experten, nicht als Psychologe, sondern als Mediziner. Indem er die traditionell getrennten Forschungsgebiete zum Hormon- und Nervensystem zusammenführte, entdeckte er die physiologischen Grundlagen zur Diagnose und Therapie von Krankheiten, die durch psychische Belastungen ausgelöst werden können. Heute arbeitet Bornstein als Direktor des Zentrums für Innere Medizin am Universitätsklinikum Dresden und zugleich als Dekan einer universitätsübergreifenden Forschungseinrichtung.

Ich hatte das Privileg, Professor Bornstein beim Schreiben und Vervollständigen seiner autobiografischen Aufzeichnungen begleiten zu dürfen. Über einen längeren Zeitraum hinweg, zunächst mit einer Manuskriptberatung, später mit Interviews und ihrer Bearbeitung. Sie trugen dazu bei, weitere Teile von Bornsteins faszinierender Biografie und Persönlichkeit herauszuarbeiten. Zuletzt gelang es uns, seine wichtigsten Lebensthemen als Aspekte einer zentralen Idee zu begreifen: dem Anliegen, Brücken zu bauen. Denn ein Memoir benötigt einen klaren thematischen Schwerpunkt.

Im Vorwort schreibt Bornstein:

Aufgewachsen mit »diversem Familienhintergrund« im traditionsbewussten Allgäu, wurde mir das Verständnis für Differenzen und die Notwendigkeit, über kulturelle und religiöse Unterschiede hinweg Brücken zu bauen, gleichsam mit in die Wiege gelegt.

Bornstein: Brücken bauen, S. 7

Mit dem Familienhintergrund, den er andeutet, ist die Geschichte des Judentums in seiner Familie gemeint — und die Verfolgung und Ermordung vieler Familienangehöriger während der Shoa. Mit dieser Geschichte setzte er sich als junger Medizinstudent erstmals ausführlicher auseinander, und fand letztlich, geführt durch zahlreiche spannende Begegnungen und Erfahrungen, selbst zum jüdischen Glauben.

Der extrem sprachbegabte Bornstein hatte einige Schwierigkeiten mit seinem Doktorvater zu überwinden, verbrachte längere Studienzeiten in den USA, bewegte sich in einem internationalen Forschungsumfeld und lernte schließlich seine erste Ehefrau Monika Ehrhart kennen, die als Biologin auf einem benachbarten Gebiet forschte. Aufgrund dieser Erfahrungen entwickelte und vertiefte sich sein wissenschaftliches Credo, das auf Zusammenarbeit und einem Denken »out of the box« setzt, eben darauf, Verbindungspunkte zu finden und Brücken zu bauen:

Die engstirnige Konzentration aufs Eigene, das erlebte ich auf schmerzliche Weise bereits im Zusammenhang meiner frühesten Forschungen, kann nur in einer geistigen Sackgasse enden. Stattdessen gilt es, Berührungsängste zu überwinden, und die »Sprache« der vermeintlich Fremden zu lernen, wenn nicht im eigentlichen, dann zumindest im übertragenen Sinn.

Bornstein: Brücken bauen, S. 8

Bornstein berichtet von seinen persönlichen Erfolgen in der medizinischen Forschung und von zahlreichen wissenschaftlichen Highlights, die durch diese Haltung der Offenheit ermöglich wurden. Etwa die Entwicklung einer künstlichen Bauchspeicheldrüse, die in Zukunft vielen Diabetes-Kranken das Leben erleichtern könnte.

Als Dekan einer deutsch-britischen Forschungseinrichtung — dem transCampus, gegründet ausgerechnet in Zeiten des Brexit — gelang es ihm schließlich, eine echte Brücken-Institution zu schaffen.

Verleihung des Bundesverdienstkreuzes

Klappentext des Dresdner Verlags:

So illustriert er mit facettenreichen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen, was zum zentralen Anliegen seiner weitreichenden Arbeit wurde: Dass nicht Isolation und Konfrontation, sondern nur die vorurteilslose Zusammenarbeit zu fortschritten führt, die den Menschen zugute kommen — ihrer Identität, ihrer Gesundheit und ihrem Wohlstand. Bornsteins Lebensthema: Brücken bauen — gerade jetzt.

Leseprobe:

Anfang der Siebzigerjahre, gegen Ende meiner Grundschulzeit, kam unser evangelischer Religionslehrer auf das Thema Nationalsozialismus zu sprechen. In Immenstadt lebten nur wenige Protestanten, die allermeisten Allgäuer waren katholisch, sodass wir in einer kleinen Klasse zusammensaßen. Unser Lehrer gehörte sicherlich der liberalen Strömung innerhalb der protestantischen Kirchen an, […]

Nach seiner allgemeinen Einleitung zur Hitler-Zeit, 1933 bis 1945, davon sechs Jahre Krieg, hatte unser Religionslehrer eine Idee. Womit ich derweil beschäftigt gewesen war, habe ich vergessen. Ich glaube nicht, dass ich ihm bis dahin besonders aufmerksam zugehört hatte. Jetzt sagte er sinngemäß: »Wir haben ja einen Schüler in dieser Klasse, der aus einer jüdischen Familie stammt. Die Juden haben doch während des Zweiten Weltkriegs besonders gelitten. Es wäre schön, wenn der Stefan uns davon berichten könnte.«

Als ich meinen Namen hörte, schreckte ich auf. Sollte ich ermahnt werden? Ich war mir nicht bewusst, etwas angestellt zu haben.

»Stefan, könntest du davon erzählen, was deine Familie durchgemacht hat? Was mussten die Juden im Nationalsozialismus erleiden?«

Das war keine dieser üblichen Lehrerfragen, bei denen man aufzeigen konnte oder sich, wenn man die Antwort nicht wusste, wegduckte. Sie richtete sich direkt an mich, und nur an mich.

Mir wurde heiß. Ich fühlte mich überrumpelt. Meine Gedanken rasten, und zugleich spürte ich nur Leere im Kopf. Mir war klar, dass es in unserer Familie etwas gab, was man »jüdisch« nannte. Ich wusste, dass das gefährlich gewesen war, dass mein Vater und mein Großvater unschuldig verhaftet worden waren. Dass es Menschen aus unserer Familie gab, die ich niemals kennengelernt hatte, weil es sie das Leben gekostet hatte, »jüdisch« zu sein. Von diesem bedrohlichen Etwas, das mich offenbar von allen Kindern unterschied, hatte ich jedoch noch nie mit jemandem gesprochen. Meine Mitschüler blickten mich erwartungsvoll an, doch ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Sonst war ich keineswegs schüchtern oder auf den Mund gefallen, war eher ein unruhiges, zappeliges Kind, dem es schwerfiel, still sitzen zu bleiben und ruhig vor sich hinzuarbeiten, wie man es in der Grundschule verlangte. Jetzt war meine Zunge wie gelähmt. Am liebsten wäre ich in den Boden versunken und fort gewesen. War es mir peinlich, dass ich nicht sprechen konnte, oder dass die Frage, die der Lehrer an mich gerichtet hatte, mich vor den anderen aussonderte? Ich fühlte mich entlarvt. Doch wie sollte ich mich verteidigen, wenn ich gar nichts verbrochen hatte?

Nach einer oder vielleicht zwei Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, sagte eine Mitschülerin: »Ich glaube, der weiß nichts. Lassen wir ihn in Ruhe.«

Der Lehrer nickte. Wahrscheinlich war er enttäuscht darüber, dass ich nichts beizutragen hatte und sein Unterricht demnach ohne Anschauungsbeispiel auskommen musste. Ich kann mich nicht erinnern, dass er nach der Stunde noch einmal auf mich zugekommen wäre. Ich weiß auch nichts mehr vom Rest seines Unterrichts, in dessen Verlauf das Rauschen in meinen Ohren allmählich abklang. Der Abgrund zwischen mir und den Kameraden schloss sich nach und nach, bis ich wieder ungefährdet zu ihnen hinüber und mein gewöhnliches Leben als Allgäuer Bub wieder aufnehmen konnte. Und mehr wollte ich vorerst nicht.

Stefan R. Bornstein: Brücken bauen. Ein Memoir
Dresdner Verlag, 2022
ISBN 978-3-933109-77-4
16,80 €

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