In der letzten Woche, am 23. Juli 2021, ist Alfred Biolek gestorben. Ich war kein großer Fan, und doch trauere ich ein wenig. »Bio’s Bahnhof« war eine der ersten »späten« Sendungen im Fernsehen, die ich ansehen durfte (sie lief, bis ich 14 war), und die erste Musiksendung, die Musik und Künstler*innen ernst nahm. Die Bahnhofs-Ästhetik und Bioleks Umgang mit seinen Gästen vermittelten ein Gefühl von Weltoffenheit und Lebensart, die mir neu war. Man vergleiche nur: Blauer Bock, Hitparade, etc.
Später sah ich weniger fern, Kochshows schon gar nicht. Doch Biolek, als Typ, war irgendwie immer gegenwärtig. In seiner freundlichen Art brachte er den Deutschen Genuss und Liberalität nahe. Er brachte »nahe«, aber nicht »bei«, belehrte keinen. Es war mehr so, dass man überlegte: Wenn dieser nette und offensichtlich überdurchschnittlich intelligente Mann das gut findet, könnte etwas dran sein. Als er, ebenso wie Hape Kerkeling, in einer Fernsehsendung als homosexuell geoutet wurde, protestierte niemand. Wenn das schwul war, war es wohl okay, dachten viele. Er baute vielen, die nach ihm kamen, eine Brücke
Bio — mein Leben
2006 veröffentlichte Alfred Biolek seine Autobiografie. Das hier ist keine Rezension, denn ich habe sie nicht gelesen. Was ich im Perlentaucher darüber erfahre, ist nicht gerade schmeichelhaft. Dass Biolek sie nicht selbst geschrieben hat, war kein Problem, es ging eher um die Leistungen des Ghostwriters oder Mit-Autoren.
Doch trotz möglicher Mängel leistete diese Autobiografie unschätzbare Dienste. Das las ich in einem der Nachrufe: 2010 stütze Biolek nämlich auf einer Wendeltreppe und erlitt schwere Kopfverletzungen. Er lag im Koma und verlor sein Gedächtnis. Erst beim Lesen seiner Autobiografie kehrte es allmählich zurück. Das hatte, wenn es so stimmt, wie es erzählt und geschrieben wird, sicher nichts mit der literarischen Qualität des Buchs zu tun, sondern damit, dass es offensichtlich geeignet war, als eine Art externes Gedächtnis zu fungieren. Beim Lesen wurden die alten Bilder wiederbelebt, und die aktivierte Erinnerung fand neue Verbindungen zum fast Vergessenen. Ein Clip, der am 23. in der Tagesschau lief, zeigt Biolek, inzwischen stark gealtert, der sagt:
Ich lebe von der Erinnerung. Und das macht mich zufrieden.
Alfred Biolek
Unschätzbare Erinnerungshilfe
Mittels vorhandener Aufzeichnungen und einem kurzen Nachinterview habe ich vor einigen Jahren die Autobiografie einer Demenzkranken fertiggestellt. Die Tochter erzählte mir, als das Buch vorlag, wie wertvoll es ihrer Mutter sei. In den letzten Lebensjahren und Monaten nahm sie es beinahe täglich zur Hand und las darin. Zwar brachte es ihr Gedächtnis nicht wieder zurück, wie es wohl bei Alfred Biolek war. Doch Spuren davon. Und es vermittelte ihr ein Gefühl von Identität, das sie aus eigener Kraft nicht mehr aufbringen konnte.
Anders als Fotoalben, die ja in den meisten Haushalten vorhanden sind, und die man oft mit Hochaltrigen und Demenzkranken durchsieht, machen verschriftlichte Lebenserinnerungen Zusammenhänge deutlich. Sie erinnern an Namen, Orte, Tätigkeiten und Erlebnisse, die sich im rein Visuellen nicht mehr finden lassen. Außerdem unterstützt das Lesen stärker das Denken als das bloße Schauen. Und Lesen ist etwas, was Demenzkranke in der Regel noch können.
Alfred Bioleks Autobiografie mag kein großer literarischer Wurf gewesen sein. Für ihn selbst war sie von großem Wert. So gesehen kann das Schreiben einer Autobiografie (bzw. von Memoiren, Lebenserinnerungen jeder Art) als eine wichtige Altersvorsorge verstanden werden.