Biografie und Bücherstapel

Wer schreibt, für den kann ein Besuch in einer der neueren Großbuchhandlungen zu einer Herausforderungen werden. In den kleinen Stadtteilbüchereien, die sich gerade noch so lohnen und vielleicht eine besonders profilierte Auswahl anbieten, ist das Gefühl höchstens gedämpft und unterschwellig vorhanden. Hier steht noch das Interesse am Unbekannten im Vordergrund, an der Horizonterweiterung. Am schlimmsten ist das Gefühl, das ich meine, wenn man sich aus Illusion und Übermut auf eine der beiden Buchmessen verirrt, die in Deutschland jährlich zelebriert werden.

Wovon spreche ich? Vom Gefühl der eigenen Irrelevanz, das sich beim Anblick von Bücherstapeln einstellt. Genauer: von Stapeln jeweils identischer Bücher, die lagerähnlich die notorischen Büchertische füllen. So kommen Bücher sonst nie vor. Entfremdet dem Sofatisch, Arbeitstisch, Nachttisch und dem sicher bergenden Regal bieten sie in diesen Stapeln den profanen Anblick von Serienprodukten. Die „Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (Walter Benjamin) hat es schwer, das wusste man längst, doch damit war die bildende Kunst gemeint. Der Buchdruck war schließlich ein Fortschritt — durch bewegliche Lettern entstand überhaupt erst eine Leserschaft für Zeitgenössisches. Die Präsentation, das Verkaufs-Display mancher Buchhandlungen lässt diesen Fortschritt jedoch ins Gegenteil kippen. Quantität schlägt um in mangelnde Qualität.

Es geht mir nicht um die Qualität des Inhalts — ich glaube nicht daran, dass die Bücher (Romane, Biografien, Gedichtbände) heute schlechter sind als früher. Eher im Gegenteil. Ein Griff in Opas Bücherregal ermöglicht den Vergleich. Worum es mir geht, ist die Qualität der Beziehung zwischen Leser/in und Buch. Die Büchertischstapel machen den Leser zum Konsumenten. Er forscht nicht mehr, lässt sich nicht überraschen von einem Buch, bereichern und erneuern. Es geht nicht mehr um die Suche nach einem Gesprächspartner. Statt dessen soll er auswählen, sich aneignen. Nicht lesen soll er, sondern kaufen. Das Buch ist kein Gesprächspartner mehr, kein Vertreter einer Spezies, sondern Kopie. Es nimmt ihn nicht mehr ernst, weil er es nicht mehr ernst nehmen kann.

Ich übertreibe ein bisschen. Es geht mir um Verschiebungen in unserer Mentalität.

Bei Schreibenden kommt das Gefühl auf: Ich kann dem nichts entgegensetzen. Ein einzelnes Buch kann ich lesen, ich kann ihm begegnen, mich anregen lassen und im Schreiben antworten. Schreibend komme ich auf Augenhöhe. Diesem Stapel jedoch könnte ich nur eins entgegensetzen: Erfolg, Verkaufszahlen. Der lebendige Ausdruck erstickt unterm Gesetz des Marktes. Anstelle des Wertes, der dem (biografischen) Schreiben innewohnt, dem Verständlichmachen einer einzigartigen Perspektive, tritt das Katzengold des Hochstaplers.

Wehren wir uns dagegen. Die Büchertischsortierer wissen es nicht, aber wir wissen es: Worauf es ankommt, ist nicht die Stückzahl, sondern das Gespräch. Die geistige Bewegung, die wir beim Schreiben spüren, ist real. Viel realer als computerisierte Druckmaschinen. Wir brauchen Leser, um zu schreiben, aber wen kümmert es, ob es zehn sind oder zehntausend? Es könnten die richtigen zehn sein: Die Kinder, die Enkel, die Freunde, denen wichtig ist, was wir schreiben. Vielleicht lebenswichtig.

Die wenigsten von uns sind auf hohe Auflagen angewiesen. Warum sollte ein Buch also weniger relevant sein als ein Stapel Bücher?

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