Erzählen heißt, sich als Zweck zu zeigen

Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
Immanuel Kant

Diese besondere Formulierung des kategorischen Imperativs von Kant (des obersten Prinzips der Moral) gefiel mir während meines Studiums immer am besten.

Jeder von uns weiß, was es heißt, einen Menschen nur als Mittel zu benutzen: der Mann hinterm Schalter ist ein Mittel, um an die Fahrkarte zu kommen. Der Vorgesetzte – vielleicht – ein Mittel zum beruflichen Aufstieg.

Wir wissen auch, was es heißt, als Mittel benutzt zu werden. Oder als unbrauchbar angesehen zu werden. Gelegentlich kommt man sich, angerempelt in der Fußgängerzone, wie ein Hindernis vor. Oder man spürt die Absicht, die hinter der einen oder anderen nett formulierten Anfrage stecken mag.

Menschen als Mittel zu nehmen, ist unvermeidlich, überlegt Kant, darum dürfen wir es auch. Nur sollten wir nicht völlig vergessen, dass es sich beim Mann hinterm Schalter oder beim Vorgesetzten eben nicht um ein bloßes Mittel handelt, sondern eben auch um einen Zweck. Dass er sich selbst als Zweck ansieht, so wie wir uns.

Und dabei – um meine kleine philosophische Exkursion zu beenden – hilft uns nichts besser, als eine Geschichte: Wenn wir dem anderen zuhören, wie er erzählt, erkennen wir ihn unweigerlich als Zweck. Vorausgesetzt, er erzählt ehrlich. Dann erzählt er (oder sie, selbstverständlich) von seinen Motiven und Zielen, von Hindernissen, vom Scheitern und vom Erfolg. Und wenn wir an der Reihe sind und erzählen oder schreiben, haben wir die Chance, uns unmissverständlich als Zweck zu zeigen.
Darum kann das Erzählen und Weitergeben von Geschichten wahre Wunder wirken, gerade in den hochgradig zweckrationalen Zusammenhängen der heutigen Berufswelt.

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