Manuela Tulle, die sich vor einiger Zeit von mir beraten lies, und nun regelmäßig auf meiner Ideen-Seite zum biografischen Schreiben, biografika, stöbert, schickte mir eine E-Mail mit folgendem Text, den ich hier als »Gastbeitrag« präsentieren darf: eine wunderbare Motivation zum biografischen Schreiben!
Lieber Herr Kappner,
gerade habe ich Ihre aktuelle biografika-Mail erhalten und beim Lesen des Artikels »Die Kraft des biografischen Schreibens« und auch des Interviews mit Frau Enders, ist mir ein Text, den ich noch »im Land, das auf den Fruehling wartet« geschrieben habe, eingefallen.
Ich wünsche Ihnen ein sonniges Wochenende aus Frigate Bay, Union Island in den Grenadinen (I can’t believe we have a signal here!).
Herzliche Grüße,
Manuela Tulle
Geschichten
Wir alle haben Geschichten zu erzählen.
Geschichten sind Leben. Ohne sie wären wir tot.
Täglich erzählen wir Geschichten. Die meisten unbewusst mit jedem Schritt, den wir tun, mit jedem Gedanken, der sich in unserem Kopf entfaltet, mit jedem Blick, den wir nach außen und nach innen richten.
Wir erzählen. Wir können gar nicht anders. Wir werden geboren, wachsen auf, gehen zur Schule oder auch nicht, wir machen eine Ausbildung oder auch nicht, wir üben einen Beruf aus oder auch nicht.
Eine Geschichte folgt der anderen. Wir beginnen eine Beziehung oder auch nicht, haben Kinder oder auch nicht, lassen uns nieder oder auch nicht, besitzen ein Haus oder auch nicht, sind für einen Weile miteinander verbunden, sind füreinander da, halten uns aus … und mit einem Mal fällt uns auf, dass das das Leben ist.
Der gerissene Keilriemen, der Rohrbruch, der verpasste Zug, die verstopfte Toilette, der ungewollte Besuch, das abgesagte Konzert, der Rasenmäher des Nachbarn, die gelöschte Datei, der verlorene Hausschlüssel, der abgelaufene Reisepass, die unerwiderte Liebe, der Fleck auf seinem weißen Hemd, die Laufmasche in ihren Nylonstrümpfen, der positive Befund, die vollen Windeln – Leben.
Das Durcheinander, das Überraschende, das Ungeplante, Ungewollte, der Morast und das Nichtperfekte. Das ist das Leben, das Geschichten schreibt.
Es sind die kleinen unsichtbaren Romane, Essays und Kurzgeschichten, manchmal sogar Gedichte, die zwischen uns Menschen tagtäglich im Leben geschrieben werden.
Die plötzlichen Wendungen, Veränderungen, Vorlieben und Abneigungen, die unangenehmen Gefühle und die, die überwältigen und niederschmettern, die unzähligen kleinen Tode und winzigen Geburten die jeden einzelnen Tag entweder zu einem guten oder nicht so guten oder einem sogar schrecklichen werden lassen, zu einem fantastischen oder einem kaum wahrgenommenen, weil wir durch unsere Geschichten gerast sind, ohne ein einziges Kapitel gelesen zu haben.
Dabei sind das die echten, die wahren Geschichten, die, die niemand anders so erzählen kann, wie wir selbst.
Warum nach Leben im Außerirdischen suchen, wenn wir es doch bereits hier haben.
Finden wir unsere Geschichten so wenig erzählenswert?
Geschichten sind unser Leben. Finden wir unser Leben so wenig lebenswert oder bereitet uns die freie Improvisation so große Schwierigkeiten? Das Nicht-Wissen, was wir als nächstes auf die Seite unseres Lebens schreiben werden?
Aber ist es nicht gerade das, was beim Gestalten einer Geschichte so viel Freude bereitet? Nicht zu wissen, was als nächstes passiert und trotzdem immer wieder, eine Masche nach der anderen zu knüpfen, von der eine jede es irgendwie schafft, sich schließlich selbst mit der nächsten zu verbinden bis sie zum roten Faden unseres Lebens werden – unserer Geschichte.
Auch wenn wir glauben, sie sei nicht druckreif, so ist sie jedoch immer reif.
Reif um gepflückt zu werden, von dem, der seine Geschichte gesät, gepflanzt, genährt und gepflegt hat.
Warum fällt es uns so schwer, die Früchte unseres Lebens zu ernten und in den Korb zu legen, der ein Leben lang bereitsteht um all unsere Geschichten zu sammeln und zu bewahren.
Geschichten der Freude, des Leids, des Jubels, der Niedergeschlagenheit. Geschichten der Trauer, der Hoffnung, des Schmerzes und der Sehnsucht. Lebensgeschichten. Lebendige Geschichten. Gelebte Geschichten.
Wie unglaublich schön ist der Moment, wenn wir die Ernte unseres Lebens vor uns ausgebreitet sehen und wir erkennen, dass es lebenswichtig, vielleicht sogar lebensrettend sein kann, von ihr zu erzählen.