„Storytelling“ ist zu einer wichtigen Methode geworden, um Sinn und Identität in Unternehmen zu stiften und die interne wie externe Kommunikation zu verbessern. Wörtlich übersetzt heißt „Storytelling“ nichts anderes als Geschichten zu erzählen.
1. Ist „Storytelling“ nur ein Modebegriff?
Menschen sind es, die Geschichten erzählen. Wer Kinder zu Hause begrüßt, wenn sie von der Schule oder vom Ferienlager kommen, weiß das. Oder wer alte Eltern hat, vielleicht schon alltagsverwirrt, die in den Geschichten von früher leben. Oder wer gerne nach dem Sport mit den Vereinsfreunden zusammensitzt. Erzählt nicht jeder Geschichten, hört nicht jeder gerne zu? Ist darum „Storytelling“ nur ein Buzzword, ein Anglizismus eben, der den alten Wein in neuen Schläuchen gut verkaufen soll?
Ja und nein. Zwar soll das Wort ein wenig summen und Begeisterung entfachen, doch das scheint mir nichts Schlechtes zu sein. In solchen Zusammenhängen nämlich, in denen in den letzten Jahren und Jahrzehnten vergessen wurde, Geschichten zu erzählen. Weil dem Nüchtern-ingenieursmäßigen der Vorzug gegeben werden sollte – harte Fakten, harte Dollars – oder schlicht weil die Zeit fehlte. Weil es schnell gehen musste. Während der Arbeitszeit Geschichten erzählen? Nein, das sollen die Kollegen doch besser abends erledigen. Das ist höchstens etwas fürs Vorzimmer.
Wer nur das tut, dessen Nutzen sich (vermeintlich) kalkulieren lässt, dem muss der Nutzen von „Storytelling“ verdeutlicht werden. Zur Not mit Buzz.
2. Was ist Storytelling?
Kommen wir zur Definition. Unter „Storytelling“ verstehe ich die Einführung und Verwendung erzählerischer Formen in Kommunikationsbereichen, in denen sie
- bisher unbekannt waren,
- oder für eine gewisse Zeit verdrängt, oder
- als solche unerkannt, verdeckt und unreflektiert geblieben waren.
Zum Beispiel bei Herrn Mähr: Dem alten Außendienst-Haudegen hörte bisher kaum jemand zu, wenn er seine Dönekes erzählte, über den Abschluss in Belgien neulich. Anstatt sich beim Kaffeeautomaten das Ohr abquatschen zu lassen, nutzte man die Zeit zum Besuch seriöser und erfolgversprechender Verkaufstrainings. Bis auf einem dieser Trainings „Storytelling“ auf dem Plan stand. Restlos überzeugt durch die/von den Methoden des Storytelling-Trainers besann man sich darauf, Mähr noch einmal gründlich zu interviewen. Schließlich würde er bald in Rente gehen, war also ein „Leaving Expert“ …
3. Eine einfache Unterscheidung
Inmitten von Geschichten ist es schwer, den Überblick zu bewahren. Selbst unser eigenes Leben „haben“ wir nur in Form einer Lebensgeschichte, die unsere Erinnerung konstruiert. Für diesen kurzen Beitrag möchte ich jedoch keine ausgefeilten Ordnungs-Systeme bieten. Ich unterscheide Geschichten auch nicht nach dem Zweck, den wir damit verfolgen oder dem „Anwendungsbereich“ des Storytelling, sondern in Hinsicht auf ihre erzählerischen Form. Erstens nach der Größe: Von der Mini-Story, die sich in einen Satz packen lässt („Als Peter Maria einstellte, waren seine Probleme gelöst.“) bis zum Firmen-Roman. Zweitens – und hier wird es interessant – nach der Perspektive: Er/Sie-Geschichten einerseits, andererseits Ich-Geschichten.
Der Vortragsredner setzt sein Predigtmärlein ein – von jenem Außendienstler Mähr zum Beispiel, dem man schließlich doch noch zuhörte. Der PR-Experte kann das Alleinstellungsmerkmal der Firma in eine nette Geschichte „verpacken“. Das sind Er/Sie-Geschichten, die nicht allzu viel persönliches Engagement verlangen. Journalisten erzählen – falls sie erzählen – meistens Er/Sie-Geschichten. Damit wecken sie die Aufmerksamkeit, strukturieren Informationen, setzen Akzente. Wenn sie dabei selbst „durchs Bild liefen“, würden wir es vermutlich als störend empfinden.
Anders sieht es aus mit Ich-Geschichten. Sobald wir jemanden von sich selbst sprechen hören, wenden wir uns ihm auf eine andere Weise zu als dem „bloßen“ Geschichtenerzähler. Vergleichen Sie:
Es klingelte. Erschrocken sprang Dr. Horst Schmalte vom Schreibtisch ans Fenster. Da stand ihr roter Volvo. Er hatte das Date vergessen! Mist. Wenn er nur endlich einmal Ordnung schaffen könnte in seinem Terminchaos! Privat und geschäftlich, auf Zetteln und im E-Mail-Anhangsprogramm, …
Es klingelte. Erschrocken sprang ich vom Schreibtisch ans Fenster. Da stand ihr roter Volvo. Ich hatte das Date vergessen! Mist. Wenn ich nur endlich einmal Ordnung schaffen könnte in meinem Terminchaos! Privat und geschäftlich, auf Zetteln und im E-Mail-Anhangsprogramm, …
Während die erste Geschichte sehr konstruiert wirkt – jetzt kommt die Werbung für das passende Smartphone, denkt man – bleibt die zweite Geschichte „offener“. Das „Ich“, zusammen mit dem Bekenntnis zum eigenen Chaos, verleiht ihr etwas mehr Glaubwürdigkeit.
4. Ich-Geschichten haben die größere Fallhöhe
Waren Sie schon einmal auf einer Autorenlesung? Nehmen wir an, das vorgestellte Buch handelt von den Erlebnissen einer Figur, die seine Frau bei einem Autounfall verlor. Selbst wenn auf dem Umschlag „Roman“ oder „Erzählung“ steht, groß gedruckt: Sobald die Lesung zu Ende ist, können Sie die Zeit stoppen, bis jemand aus der Hörerschaft fragt: „Haben Sie das selbst erlebt?“ oder „Wie groß sind die autobiografischen Anteile an Ihrem Roman?“ Jeder fragt sich: Muss ich Mitleid haben mit dem Mann? Welchen Tod hat er in seinem Buch verarbeitet?
Ich-Geschichten tragen größere Chancen in sich, aber auch größere Risiken als Er/Sie-Geschichten. Wenn Sie nämlich die Frage des Lesers oder Hörers bestätigen („Ja, das habe ich selbst erlebt!“), schließen Sie einen autobiografischen Pakt, dessen Versprechen sie einlösen müssen. Sie bürgen dafür „mit Ihrem guten Namen“, und man schenkt Ihnen Glauben. Brechen Sie den Pakt, indem Sie Ihre Geschichte jetzt noch aus der Luft greifen, verlieren Sie Ihre Glaubwürdigkeit, vielleicht für alle Zeiten. Das gilt auch für den Fall, dass ihre Ich-Geschichte einfach nicht zu ihnen passt. Wer Ihr „Ich“ aus anderen Zusammenhängen als überaus korrekten und immer pünktlichen Zeitgenossen kennt, der nimmt Ihnen die Geschichte mit dem roten Volvo von Anfang an nicht ab.
Gerade soziale Medien setzten auf Ich-Geschichten. Darum ist ihr Status besonders prekär. Die Glaubwürdigkeit ihres Einsatzes im oder für ein Unternehmen hängt am seidenen Faden der Wahrhaftigkeit. Wer draufloserzählt, was der Firma zu nützen scheint, wird vielleicht mit dem Bade seiner Kompetenzen ausgeschüttet.
5. Firmen erzählen Geschichten, wenn Menschen sie erzählen
„Jedes Unternehmen hat seine Geschichte!“ heißt es in einem Werbespot von Google AdWords für Videos. Damit ist die „Core Story“ gemeint, der zentrale Mythos, der die Gründe für die Existenz einer Firma zusammenfasst. („Biographie-Service“ gibt es, damit jeder Mensch die Möglichkeit hat, seine Geschichte zu erzählen.) Doch wenn es etwas mehr sein soll, das Storytelling der PR dient, dem Wissensmanagement oder der Analyse der Unternehmenskultur, reicht es nicht mehr, das Unternehmen zur Hauptfigur zu erklären. Jetzt sind Ich-Geschichten gefragt. Denn Firmen erzählen nur Geschichten, wenn Menschen sie erzählen. Und das heißt zugleich: Wahrhaftigkeit ist gefragt. Wer die Kraft von Geschichten nutzen möchte, kann sich nicht hinter kommunikativen Schleiern verstecken, die Kompetenz suggerieren sollen, ohne etwas preiszugeben.
6. Die Firmengeschichte als Königsdisziplin des Storytelling
Firmengeschichten vermitteln oft den Eindruck, das sie sich weder ihres Zwecks ganz bewusst geworden sind, noch der Anforderungen an Ich-Geschichten. Sie werden oft als pseudo-historiographische Chroniken konzipiert, die den eigenen Standpunkt unter scheinbar objektiven Errungenschaften verstecken. Die Beschreibung der Beteiligten, bis hin zum Unternehmer, bleibt steril, ihre Leidenschaften abteilungsweise eingeschränkt (Die Sekretärin erscheint entweder als „gute Seele“ oder sie scheint überhaupt keine Seele zu besitzen, der Firmengründer ist natürlich ein Visionär, etc.). Darum bedankt man sich für die Firmengeschichte, betrachtet die Fotos und stellt den Prachtband ins Regal.
Gute Firmengeschichten dagegen sind die Königsdisziplin des Storytelling – egal, ob in Buchform oder multimedial aufbereitet. Sie wirken nach innen und außen, schaffen Glaubwürdigkeit und Identität. Doch nur, wenn in ihnen Menschen aus Fleisch und Blut vorkommen, die – statt von einer zur nächsten Stufe des Erfolgs empor zu steigen – Träume haben, ihre Ziele gegen Hindernisse durchsetzen, Menschen, die Fehler machen und sich wieder aufrappeln. Oder Menschen, die eine ganze Kultur verkörpern, wie die Müllmänner der Berliner Stadtreinigung. Menschen, die starke Ich-Geschichten erzählen können. Die Firmengeschichten von Rohnstock Biografien in Berlin, an denen ich von Zeit zu Zeit mitarbeite, verfolgen einen solchen „Storytelling-Ansatz“, der – was nicht verwundern wird – arbeits- und zeitintensiver ist, als die Erstellung einer Chronik aus dem Firmenarchiv. Dafür wird schon der Prozess der Erarbeitung für die Beteiligten im Unternehmen zu einem Aha-Erlebnis: Das sind wir. Oder das könnten wir sein. Das ist unsere Firma!
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