Ist mein Leben interessant genug?

Diese Frage wird mir oft gestellt, in der einen oder anderen Form, von Teilnehmern meiner Schreibseminare und auch von Erzählern, deren Leben ich aufschreiben möchte oder soll. Skeptiker fragen mich: „Ist es nicht langweilig, (Auto-)Biografien von normalen Leuten zu schreiben?“ Ich verneine deutlich — tatsächlich kann ich mir kaum einen aufregenderen Beruf für mich vorstellen, fürs Extremklettern oder Weltreisen hege ich keine Neigung — doch gelegentlich habe ich den Eindruck, dass mein Gegenüber skeptisch bleibt. Warum ist das so?

Was ich kurz erläutern möchte: Die Beurteilung des autobiografischen Schreibens danach, wie spannend der jeweilige Lebenslauf erscheint, beruht auf einem Missverständnis.

Ein Missverständnis, das entsteht, wenn wir eine falsche Einordnung vornehmen: Anstatt das autobiografische Schreiben als eine zeitgemäße Ausdrucks- und Kommunikationsform zu verstehen, wird es in den Rahmen der mitunter schrillen, auf Effekte abzielenden Unterhaltungsbranche gestellt. Was heißt das genau?

Warum ist das autobiografische Schreiben zeitgemäß?

Bei Beurteilungen der heutigen Zeit wird häufig darauf hingewiesen, dass es keine „Normalbiografie“ mehr gibt. Anstatt Vorbildern nachzuleben, die von der Herkunft oder wirtschaftlichen Umständen herkommen, muss sich jede/r seinen eigenen Weg suchen. Der schwierigste Teil: Jede/r kann sich auch nur an den eigenen Maßstäben orientieren. Jedenfalls wenn es nicht nur um den einen Maßstab gehen soll, der irgendwie immer gilt, aber sich gleichgültig zeigt gegen jede persönliche Überzeugung: den Maßstab des Geldes.

Wenn heute jemand seinen Job als Börsenmakler aufgibt, um im Bankenviertel einen Imbisswagen zu betreiben und Currywürste zu verkaufen, ist nicht von vornherein klar, ob es sich dabei um einen Abstieg handelt oder um einen Erfolg. Das hängt allein von den Maßstäben ab, die der Betroffene wählt. Das Beispiel habe ich mir nicht ausgedacht, es stand heute morgen in der Zeitung, und siehe da: Der Currywurst-Anbieter beschrieb seine neue Tätigkeit als wesentlich befriedigender.

Nehmen wir nun an, die Schwiegermutter des Wurstverkäufers habe andere, etwas „traditionellere“ Wertvorstellungen, also solche, die eine „Normalbiografie“ zugrunde legen. Früher konnte sie erzählen, ihr Schwiegersohn arbeite (hochbezahlt) im Bankenviertel, nun steht er in einer Imbissbude … Es könnte also einen Widerspruch geben zwischen den Maßstäben des Ex-Börsianers und der seiner Freunde, Bekannten, Familie. Wenn er nicht ein sehr dickes Fell hat, ist er gut beraten, diesen Widerspruch, diese Lücke nicht allzu groß werden zu lassen.

Der Zeitungsartikel, in dem sein Berufswechsel als freie Wahl und eben als Erfolg dargestellt wird, kann ihm helfen, die Lücke zu überbrücken, wenn er es nicht schon selbst, erzählend und vielleicht auch schreibend, getan hat.

Das autobiografische Schreiben ist zeitgemäß, weil heute die Freiheit und oft auch die Notwendigkeit besteht, vorgegebene Maßstäbe zu verwerfen: Es kann die eigenen Maßstäbe erkenntlich machen — für andere und für sich selbst. Das kann sehr heilsam sein. Denn oft hat man es selbst in der Hand zu entscheiden, ob man nun erfolgreich war (wie der Currywurstverkäufer!) oder „Trauerarbeit“ zu leisten ist.

Der Wert einer Autobiografie hat nichts mit der Unterhaltungsbranche zu tun

Das Fernsehen (und vielleicht bald auch das Internet) ist heute Leitmedium. Wer im Fernsehen erscheint, und sei es nur als Sprecher, wird betrachtet und ist bekannt. Fernsehleute laden sich gegenseitig ein, reden über ihr Leben, und wenn sie ein Hobby haben (oder erfinden), können sie Bücher darüber schreiben (lassen), die gekauft werden. Was die Verlage freut. Die Themen, die „interessant“ sind, wechseln, dieses Jahr wird gegrillt, Missbrauchserfahrungen, Reisen, Mode: Alles zwischen Betroffenheit und purem Quatsch. Und aus Millionen von Möglichkeiten sucht man sich den unwahrscheinlichsten Fall: Lottogewinne, Zufälle, gehäufte „Schicksalsschläge“. Das Fernsehen ist (wie das Wetter) oft der kleinste gemeinsame Nenner, darum wird es zum Gesprächs-Vehikel, einem Gespräch, an dem auch die Buch-Verlage rege teilnehmen.

Und was hat das mit Ihrer Biografie zu tun, mit dem Ausdruck Ihrer ureigenen Maßstäbe, ihres Scheiterns und ihres Erfolgs? Vermutlich gar nichts. Warum sollten Sie also darauf verzichten, von sich zu erzählen und zu schreiben? Und gerade, wenn jemand das Interesse an seiner eigenen Biografie verliert, weil er es mit den Fernseh-Effekten vergleicht, ist es wichtig, „Biografiearbeit“ zu leisten. Auf diese Weise, im Erinnern an den eigenen Lebensweg, können verloren gegangene Maßstäbe wieder gefunden werden.

„Ist mein Leben interessant genug?“ — „Wenn es Ihnen selbst so vorkommt: Erzählen Sie, schreiben Sie! Wenn es Ihnen nicht so vorkommen sollte: Erzählen Sie und schreiben Sie erst recht. Dann werden Sie Ihr eigenes Interesse wieder entdecken!“