Nicht lange her, da las ich während eines Schreibseminars ein Stück aus Marie Luise Kaschnitz‘ autobiografischen Aufzeichnungen „Orte“ vor (Insel Verlag, 1973). Denn es ging um Orte in der Vergangenheit, zu denen wir wirklich oder in der Vorstellung zurück reisen können, um ein Stück der eigenen Geschichte wiederzufinden.
Ich gebe zu: Die Auswahl dieses Stücks war spontan, etwas zufällig. Es sollte nicht zu lange sein und das Thema „Orte“ auf ein symbolisches Niveau heben: ein Ort der Entscheidung. Auf S. 178 stoppten meine Finger das Daumenkino, und ich las vor:
Jeder Schritt eine Qual. Langes Nachdenken darüber, ob man aus dem Nebenzimmer ein Taschentuch, ein Buch holen soll oder doch lieber nicht. In der Ruhestellung tut nichts weh, auch die Schmerzen beim Gehen wollte ich nicht wahrhaben, sie fingen aber schon an, mir das Gesicht zu verzerren.
Eine Teilnehmerin, die neben mir saß, wusste sofort, wovon die Rede war. Auch sie ging merklich gebückter als noch vor Jahresfrist.
Im Folgenden beschreibt Kaschnitz extrem verknappt, wie sie sich zur gefürchteten Hüft-Operation entschließt:
Dann plötzlich die so lang unterdrückte Verzweiflung, der rasende Zorn und der Entschluß zur ersten, dann zur zweiten Operation. Plötzlich schien mit der jahrelang geleugnete Schmerz völlig unerträglich und schlimmer als der Tod.
Und zuletzt vermittelte der Text, dieser ungefragte Ratschlag einer längst verstorbenen Autorin mit präziser Wortwahl eine Hoffnung, ein Versprechen, dem sich die Teilnehmerin neben mir nicht entziehen konnte:
Als — fünf Jahre nach den ersten Beschwerden — alles vorüber und ich mit stählernen Hüften ausgestattet war, wurde mir die Schmerzfreiheit, der leichte rasche Gang nicht selbstverständlich, ich empfand ein starkes Glücksgefühl an jedem neuen Tag.
„So“, sagte die Teilnehmerin zu mir (der ich etwas erschrak über die Wirkung meiner zufälligen und zugleich so treffsicheren Auswahl), „Das nehme ich als Zeichen. Gleich morgen mache ich einen Termin mit dem Krankenhaus.“
Die Operation, die weniger als acht Wochen nach unserem Seminar-Wochenende durchgeführt wurde, verlief glücklich. Viel aufrechter ging die Dame, als ich sie vor einigen Tagen wiedertraf. Danke, Frau Kaschnitz!
So sei allen Schreibern und Schreiberinnen von Autobiografien versichert: Was Sie tun, kann erhebliche Wirkungen entfalten!
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